„Das kann ich doch auch!“

Das Gefühl, dass man ein abstraktes Gemälde „auch selbst hätte machen können“, ist weit verbreitet – und beruht oft auf einem Missverständnis. Abstrakte Kunst wirkt auf den ersten Blick oft einfach, geradezu kindlich oder zufällig. Doch diese Einschätzung unterschätzt die Tiefe, Intention und das Können, das hinter guter abstrakter Kunst steckt.

Hier sind die entscheidenden Merkmale, die ein fachmännisch gelungenes abstraktes Werk auszeichnen:


🔍 1. Komposition

Auch ohne gegenständliches Motiv muss das Bild „funktionieren“:

  • Balance: Wie Farben, Formen und Flächen im Raum verteilt sind.

  • Spannung: Gegensätze (z.B. groß vs. klein, hell vs. dunkel) erzeugen visuelles Interesse.

  • Rhythmus: Wiederholungen, Abstände, Bewegungsrichtungen – vergleichbar mit Musik.

Ein Laie kann intuitiv Farbe auftragen – aber eine durchdachte Komposition erfordert Erfahrung.


🎨 2. Farbbeherrschung

Gute abstrakte Künstler beherrschen Farbe wie ein Musiker den Klang.

  • Farbharmonie oder -kontrast gezielt eingesetzt, um Emotionen zu erzeugen.

  • Farbauftrag (lasierend, pastos, spontan, kontrolliert) ist entscheidend für Wirkung und Tiefe.

Viele unterschätzen, wie technisch schwierig es ist, Farben richtig einzusetzen, ohne dass es „schrill“ oder „beliebig“ wirkt.


🧠 3. Intention und Idee

Ein starkes abstraktes Werk hat eine konzeptionelle Basis:

  • Emotionen, Erfahrungen oder geistige Konzepte werden auf einer nicht-gegenständlichen Ebene umgesetzt.

  • Oft liegt ein innerer Zustand oder Prozess zugrunde (z. B. bei Mark Rothko, Gerhard Richter, oder Agnes Martin).

Das unterscheidet „Kunst“ von Dekoration oder zufälligem Klecksen.


✍️ 4. Technisches Können und Materialbeherrschung

Viele abstrakte Werke erfordern:

  • Kenntnis von Materialverhalten (Öl, Acryl, Pigmente, Untergründe etc.)

  • Gestische Sicherheit: Ein Pinselstrich kann leicht, spontan wirken – ist aber oft das Ergebnis jahrelanger Übung.

  • Kontrolle im Chaos: Selbst freie, dynamische Werke wie bei Jackson Pollock folgen inneren Ordnungen.


🧭 5. Originalität und Handschrift

Ein gutes abstraktes Bild zeigt:

  • Eine klare künstlerische Stimme: Man erkennt den Stil wieder.

  • Mut zum Risiko: Gute Künstler verlassen sich nicht auf bloßes Schönmachen oder Nachahmung.


Warum man denkt „Das hätte ich auch gekonnt“ – und warum das trügt:

  1. Reduktion ≠ Einfachheit: Gutes Abstrahieren ist kein Verzicht auf Können – sondern ein bewusster Akt der Konzentration.

  2. Erlernte Wahrnehmung: Wir sind gewohnt, figurative Kunst mit „Können“ zu assoziieren. Abstrakte Kunst spricht jedoch auf einer anderen Ebene.

  3. Fehlender Kontext: Ohne Wissen über Kunstgeschichte, das Werk des Künstlers oder die Entstehungsgeschichte wirkt das Werk oft bedeutungslos.


Fazit:

Ein guter Abstrakt ist nicht das Ergebnis von Zufall oder Naivität, sondern von bewusster Entscheidung, technischem Können und geistiger Tiefe. Es ist eine Kunst, mit wenig viel zu sagen – und das erfordert mehr als man denkt.

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